Filmstill zu "Lotte in Weimar"

„Drehort: Ostdeutschland“

Werkstatt für Dokumentarfilmer

von Ralf Schenk

Das letzte Bild ist aus dem fahrenden Zug fotografiert: der Bahndamm fliegt vorbei; für Sekunden taucht ein rotes Backsteinhaus auf und verschwindet so schnell, wie es kam. So rasen wir durchs Leben, oftmals unfähig und wohl auch unwillig, die Geschwindigkeit zu drosseln, innezuhalten und uns zu besinnen. Regisseurin Gabriele Kotte entzieht sich diesem Tempo: ihr Dokumentarfilm "Unter einem Dach" blickt hinter die Fassade des Gemäuers und der darin wohnenden Menschen. Skizziert werden, im wahrsten Sinne des Wortes, Existenzen am Rande, in einer Dürfigkeit, die von relativer Armut zeugt - aber auch von Hilflosigkeit im Umgang mit sich und den Problemen des Alltags. Der Vater, ein ziemlich tumber Geselle, hat im Suff seine Tochter vergewaltigt; alle wissen davon, aber die Familie ist wie mit unsichtbaren Stricken aneinander gefesselt. Nichts - und alles - bleibt beim alten.

Extreme Schicksale

Gabriele Kotte, früher Dramaturgin und Autorin im Defa-Spielfilmstudio ("Burgschaft für ein Jahr") und seit einiger Zeit Leiterin des Bereichs Kulturelle Filmförderung beim Landesfilmzentrum Mecklenburg-Vorpommern, bringt die Tochter und die Mutter zum Sprechen und bewegt sie vorsichtig zur Reflexion des Geschehenen; der Vater, durchaus kein böser, aber ein primitiver Mensch, schwadroniert vor der Kamera über Gott und die Welt, bloß nicht übers Thema. Immerhin aber baut er im Garten aus Stoffbahnen eine Art Umzäumung; ein Vorgang, den die Regisseurin von der ersten Einstellung an als dramaturgische Klammer nutzt: Der Mann will einen Schutz um sich und die Seinen ziehen, die Pfeiler aber sind verdammt wacklig; wenn nur ein Lüftchen weht, bricht alles zusammen. Eine schlüssige Metapher in einem sensiblen, trotz aller Härte zärtlichen Film.

Mit ungewöhnlichen Leuten und extremen Schicksalen hatte man es oft zu tun während der 3. Dokumentarfilm-Werkstatt "Drehort: Ostdeutschland", die vor kurzem auf der Ostsee-Insel Poel stattfand. Claas Danielsen etwa porträtiert in "Memoiren einer frustrierten Hedonistin" eine 78jährige Kunsthistorikerin aus Petersburg, die die Schrecken des Jahrhunderts nur überstehen konnte, weil sie sich gedanklich immer wieder in die Welt der Literatur zu flüchten vermochte und daraus unbezwingbare Kraft gewann. Andreas Dresen ("Stilles Land") begleitet in "Kuckuckskinder" ein fünfzehnjähriges Mädchen während ihres Aufenthalts in einem offenen Wohnheim für gefährdete Jugendliche - bis zur plötzlichen Flucht. Ein filmisches Soziogramm, das wie Gerlinde Böhms "Vertrauen gegen Gewalt" über Jugendarbeit mit Rechtsradikalen im Ostberliner Stadtteil Lichtenberg für moderne Erziehungsformen plädiert und dem populistischen Ruf nach "geschlossenen Einrichtungen" für minderjährige "Problemfälle" eine entschiedene Abfuhr erteilt. Beide Produktionen, jeweils etwa anderthalbstündig und fürs Fernsehen gedreht, gewinnen ihre Souveränität aus einem langen Atem: die Teams haben eine Zeitlang mit ihren Protagonisten zusammengelebt und sich auf ihre Tonlagen eingelassen. Gerlinde Böhm beispielsweise bietet den jungen Neonazis in ihren Fragen und Bemerkungen kräftig Paroli; nur so konnte sie sich den nötigen Respekt verschaffen, der ihr überhaupt erst ermöglichte zu drehen.

Kontinuierliches Arbeiten

Während der Dokumentarfilmwerkstatt war es schön zu entdecken, daß einige wichtige Defa-Dokumentaristen weiterarbeiten, wenn auch leider meist nur auf Betacam und selten auf 16- oder gar 35-mm-Material. Lew Hohmann suchte für sein Video "Kommen und gehen" noch einmal drei Familien auf, die kurz vor dem Mauerfall in den Westen flohen - und inzwischen alle wieder im Osten wohnen; eine Fortsetzung der langen Defa-Dokumentation "Kein Abschied - nur fort" von 1990. Auch Dieter Schumann setzt einen eigenen alten Film fort: "flüstern und SCHREIEN", ein Rockreport zwischen 1987 und 1994, der untersucht, wie angepaßt oder abgedriftet einstige Idole des DDR-Rocks heute agieren. Heinz Blinkmann beschreibt in "Homo" die gespannte Seelenlage eines Dorfes in Brandenburg, das der Braunkohle weichen soll. Gabriele Denecke führt hinter die Mauern des "Siebten Städtchens" in Potsdam, eines von der russischen Armee okkupierten Stadtteils, den fast fünfzig Jahre lang kein Deutscher betreten durfte. Und Heike Misselwitz hat nach "Leben ein Traum", der poetischen Annäherung ans Thema Landschaft, Mensch und Tagebau, endlich wieder einen wunderschönen Kinofilm montiert: "Meine Liebe Deine Liebe", die Begegnung mit greisen Bühnenkünstlern im Weimarer Marie-Seebach-Stift, ein Essay über Vergänglichkeit alles Irdischen, auch der Fähigkeit, sich zu erinnern. Eine heiter-melancholische Studie, in der sich kleine private Anekdoten immer wieder mit der großen Zeitgeschichte treffen: Die Förderin des Heimes war keine Geringere als Emmy Göring, die viele der Pensionäre noch persönlich kannten; und aus den Fenstern ist der Turm des KZ Buchenwald zu sehen, in dem die Schauspieler und Sänger in ihrer Jugend gelegentlich auftreten mußten - ein weithin unbekanntes Kapitel nazideutscher "Kunstpolitik".

Zu den Produktionen, die man sich unbedingt im Kino wünschte, gehört zweifellos auch "Das industrielle Gartenreich" von Niels Bolbrinker und Manfred Herold. Gediegen schwarzweiß, grafisch eindrucksvoll, überfüllt mit Fakten, unternimmt der Film einen Ausflug in die Region um Bitterfeld und Dessau, in die Geschichte der Großbetriebe und des Bauhauses. Mit dem Wissen um die oftmals glorreiche Historie gerät der derzeitige ökonomische Absturz der Region gleichsam zu einem Albtraum: der Abbruch nicht schlechthin von vierzig Jahren DDR-Ökonomie, das wäre zu kurz gegriffen, sondern von 150 Jahren Industrialisierungsgeschichte, die mit einem Landschaftsprojekt begann und mit Namen wie Walther Rathenau, Hugo Junkers oder Walter Gropius verbunden war. "Das industrielle Gartenreich" fragt nach aktuellen innovativen Ideen, mit denen die klassische "Verbindung des Schönen mit dem Nützlichen", der Landschaft mit der Industrie, zu neuem Leben erweckt werden könnte. Aber: Wüßten die Autoren bündige Antworten, wären sie vermutlich nicht Filmemacher geworden.

Ralf Schenk (filmdienst 22/1995)

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