Filmstill zu "Lotte in Weimar"

Das dritte Auge.

Der DEFA-Kinderfilm als lebendiges Erbe

von Klaus-Dieter Felsmann

Sommer 1989. Walter Beck dreht im größten Babelsberger Atelier, heute bekannt als „Marlene-Dietrich- Halle“, den Kinderfilm „Der Streit um des Esels Schatten“. Die auf eine literarische Vorlage von Christoph Martin Wieland zurückgreifende filmische Parabel spielt in der antiken Schildbürgerstadt Abdera. Diese Stadt, mit Marktplatz, Rathaus, Freitreppe, Gassen und diversen Häusern, hatte der Szenenbildner Dieter Adam komplett im Studio auf einer Fläche von 30x50 Meter gebaut und dabei alle vorgesehenen 16 Hauptschauplätze in die Dekoration eingebunden. Ein solcher materieller Aufwand für den Kinderfilm war bei der DEFA nicht nur für diesen (inzwischen mehr oder weniger vergessenen) Film möglich. Er war, sicher zwischen den einzelnen Arbeiten differenziert, Grundlage für alles, was zwischen 1946 und 1990 in Babelsberg für die jüngsten Zuschauer gemacht wurde. Etwa 160 Spielfilme für Kinder sind in dieser Zeit entstanden. Nicht zuletzt wegen der guten materiellen Produktionsbedingungen bestimmen viele von ihnen bis heute das Angebot für die Altersgruppe sowohl im Kino als auch im Fernsehen mit.

Kreative Märchenfilme

Wie jede Kunst war auch der Kinderfilm in der DDR ins politisch-ideologische Erziehungskonzept der SED eingebunden. Das führte immer wieder zu sachfremder Einmischung, zu Gängelei und für manchen kreativ Tätigen zu unerträglichen Konfliktsituationen. Dies alles ist für die Bewertung des gescheiterten Gesellschaftsmodells „Sozialismus“ von elementarer Bedeutung; es war und ist natürlich auch zentraler Gegenstand der filmhistorischen Forschung. Doch einem Kind, das 1997 geboren wurde und sich an dem 1964 von Siegfried Hartmann gedrehten Märchenfilm „Die goldene Gans“ erfreut, sind die Debatten der Urgroßväter um die richtige politische und ästhetische Haltung gegenüber Märchenadaptionen herzlich egal. Die Geschichte vom Schusterjungen Klaus, der die traurige Prinzessin zum Lachen bringt, ist konsequent aus der Sicht des Kindes erzählt. Gut und Böse sind klar zu unterscheiden, ohne dass es dabei zu einer romantisierenden Verniedlichung kommt. Die Erwachsenen erscheinen nicht entrückt, sondern als höchst differenzierte Gestalten mit mancherlei Schwächen; die deutlich als Kulisse erkennbare Ausstattung knüpft an die aus den Bilderbüchern gewöhnte Ästhetik an. Hinzu kommt – wie bei vielen anderen DEFA-Kinderfilmen – der überzeugende Einsatz großartiger Schauspieler; hier sind es neben Karin Ugowski unter anderem Gerd E. Schäfer und Peter Dommisch. All diese Dinge sind für die heutige Rezeption von entscheidender Bedeutung. Die Entstehungsgeschichte der Filme tritt in den Hintergrund.

In einem anderen Märchenfilm von Siegfried Hartmann, der Andersen-Adaption „Das Feuerzeug“ (1958), ist der spätere Star des „Deutschen Theaters“ Rolf Ludwig der prägende Darsteller. Auch „Das Feuerzeug“ mit inzwischen über fünf Mio. Zuschauern gehört zum Standard des deutschen Kinderkinos. Wenn man dazu an die unumstrittenen Spitzentitel des Genres wie „Die Geschichte vom kleinen Muck“ (1953) von Wolfgang Staudte oder „Das kalte Herz“ (1950) von Paul Verhoeven denkt, so waren die ersten zwei Jahrzehnte der DEFA jene Zeit, in der für den deutschen Film ein bleibendes Fundament an Märchenadaptionen geschaffen wurde. Voraussetzung dafür war auch, dass sich die unmittelbare künstlerische Arbeit, wenn sie glaubwürdig sein wollte, vordergründigen und banalen ideologischen Prämissen nicht unterordnen kann. Als Legitimation half immer wieder der Bezug zum Gründungsprogramm des Babelsberger Filmbetriebs aus dem Jahr 1946, wo eine humanistische, antifaschistische und demokratische Position zur Arbeit gefordert wurde. An diese Grundvoraussetzungen knüpften auch spätere Märchenadaptionen an, die inhaltlich und formal weiter gingen als jene der ersten Jahre.

Rainer Simon führt in „Sechse kommen durch die Welt“ (1972) in ein fernes, längst vergangenes Königreich. Genau richtig für ein Märchen. Dennoch ist dieser Filman- fang auch eine witzige, allgemeingültige Gesellschaftssatire. Ein König lobt sich, weil er den „blutigen Großfeind“ geschlagen habe, meint, dass er deshalb nie mehr vergessen werde, und dekoriert sich selbst mit dem „Großen Stern der eigenen Unvergesslichkeit“. Er schwärmt von den vielen Toten der Schlacht und verzeiht gönnerhaft den vor ihm Stehenden, dass sie noch leben. Jeweils drei Heller hat er für die übrig, die sich für ihn geschlagen haben. Die Gesichter der Soldaten sind resignativ und traurig. Nur einer wagt zu widersprechen – umgehend lässt der König ihn einsperren.

Diese Exposition macht deutlich, dass es Rainer Simon nicht vordergründig um die enge Nachzeichnung einer Märchenparabel ging, sondern um die weiten Verallgemeinerungsmöglichkeiten, die sich um diese herum auftun. In diesem Bemühen fand er mit den Szenaristen Manfred Freitag und Joachim Nestler ideale Partner; für beide war es wichtig, spannende und emotionale Geschichten zu erzählen, die eine vielschichtige Sicht auf die Wirklichkeit ermöglichen. Dafür erwiesen sich Märchenvorlagen als gute Grundlage. Manfred Freitag sagte in einem Gespräch, dass er seine Lust am Fabulieren im Gegenwartsfilm für Erwachsene einfach nicht genügend austoben könne. Naiv und fantasievoll wie Kinder wollte er sich in der Märchenwelt bewegen. Anfang der 1970er-Jahre war das in der DDR aber nicht nur eine stilistische Frage. Rainer Simon wollte als junger Regisseur durchaus gegenwärtige Stoffe aufgreifen. Bereits als Student gehörte er zu einer Gruppe, die, wie er sagte, im Glauben, den „realen Sozialismus mit gutem Willen verändern zu können“, das Leben so abbilden wollte, wie es ist. Spätestens nach dem „11. Plenum“, das u.a. auch die Vorbereitungen an Simons Gegenwartsfilm „Die Moral der Banditen“ abbrach, hatte er spüren müssen, dass an solchen Absichten bei den Studiogewaltigen kein großes Interesse bestand. Obwohl er zunächst weiter an Gegenwartsstoffen arbeitete, war er gezwungen, in die Historie oder die Märchenmythologie auszuweichen.

Dass es ein Ausweichen war, spürt man den Filmen Simons aus dieser Zeit, ob nun „Wie heiratet man einen König“ (1969) oder „Till Eulenspiegel“ (1975), nicht an. Im Gegenteil: Aus heutiger Sicht bestechen gerade sie durch ihren hohen Grad an ästhetischer Verallgemeinerung. Das gilt auch für „Sechse kommen durch die Welt“. Wer die geschilderten Eingangsszenen als Kritik an selbstsüchtigen, das Volk in sinnlose Kriege hetzende Machthaber versteht, hat sicher Recht; es ist aber auch eine spaßige Hinführung zur Grimmschen Märchenfabel. Jürgen Holz als König und Margit Bendokat als Prinzessin halten mit ihrer differenzierten Spielweise beide Ebenen in schöner Balance. So wie hier lässt sich der gesamte Film in mehreren Schichten erschließen; naiv kindlich, aber auch satirisch gesellschaftskritisch. Simon hat allgemeingültige moralische Fragen aufgegriffen, deren Brisanz bis heute nicht an Bedeutung verloren haben.

Differenzierte Geschichtsfilme

Neben dem Märchengenre fühlte sich der DEFA-Kinderfilm der Geschichte verpflichtet. Auch hier hat jenes bis heute Gewicht, das sich nicht für plakative Zwecke vereinnahmen ließ, sondern das auf individuelle Schicksale setzte. Symptomatisch dafür ist Heiner Carows „Sie nannten ihn Amigo“ (1959). Der Film beginnt mit Bildern, wie man sie aus einem Heimatfilm kennt. Eine sanfte Gebirgslandschaft, ein Fachwerkhaus, eine Schafherde. Dann schweift die Kamera geradlinig weiter, und der Blick fällt auf ein Schild mit dem Hinweis „Lebensgefahr“. Es folgen bedrückende Aufnahmen aus einem Konzentrationslager. Diese werden wieder von mit instrumentalen Variationen des Deutschland-Liedes unterlegten Landschaftsbildern unterbrochen. Dann erneut das Konzentrationslager. In den Vordergrund tritt das Gesicht des 17-jährigen Häftlings Reiner Meister. Er erzählt, dass man ihn Amigo nennt, und dass er seit August 1937 hier einsitzt. Dann schwenkt die Kamera über die Dächer eines Berliner Arbeiterbezirks, findet Ruhe in einem Hinterhof, auf dem Kinder spielen. Eine klare Mädchenstimme singt das Volkslied: „Wer möchte nicht am Leben bleiben...“

Carow umreißt in der Exposition nicht nur die historische Situation, in der die Handlung angesiedelt ist, sondern markiert gleichzeitig den inneren Konflikt der Protagonisten. Die Sehnsucht nach einem bescheidenen Lebensglück wird durch den lebensgefährlichen Wahn einer Politik gewordenen Ideologie bedroht. Die verkürzte Erzählart durchzieht den ganzen Film und führt zu hoher emotionaler Dichte. Die weitere Handlung konzentriert sich auf den privaten Bereich des Hinterhofs; aus Sicht der dort lebenden Kinder geht es um innerste Empfindungen der Menschen in einem dramatisch äußerst angespannten Moment. Solcher Umgang mit der Geschichte, die sich milieugetreu und psychologisch genau auf das Individuum konzentriert, bestimmt die besten und damit nachhaltig wirkenden Kinderfilme der DEFA dieses Genres. Als weitere herausragende Beispiele seien Helmut Dziubas „Als Unku Edes Freundin war“ (1981) und im Umfeld der DEFA-Indianerfilme „Blauvogel“ (1979) von Ulrich Weiss genannt.

Humanistisches Gegenwartskino

Das dritte große Themenfeld der Kinderfilmproduktion in der DDR waren Stoffe mit unmittelbarem Zeitbezug: Man sollte und wollte sich einmischen in die Erziehung der jungen Menschen. Diese Filme sind aus heutiger Sicht interessante historische Dokumente: Man erfährt in ihnen oftmals mehr – und das in sehr authentischer Form – über das Denken und Handeln der Ostdeutschen in ihrer abgekapselten Welt, als dies viele rückblickende Interpretationen erreichen können. Vielfach wird deutlich, was es heißt, wenn der Einzelne durch „die Kraft des Kollektivs“ zum vermeintlich Besseren erzogen werden soll. „Der tapfere Schulschwänzer“ (1967) von Winfried Junge ist solch ein subjektiv gut gemeinter Erziehungsfilm, auch Konrad Petzolds „Alfons Zitterbacke“ mit dem einstigen DEFA-Star Günther Simon. Beide Filme haben nebenher noch einen ganz speziellen Wert: Man sieht im ersten Fall interessante Bilder von der Berliner „Fischerinsel“, im anderen vom Stadtzentrum Jenas jeweils vor den großflächigen Stadtzerstörungen zugunsten sozialistischer Symbolbauten.

Die Gegenwartsfilme der 1970er- und 1980er- Jahre erreichten vielfach eine neue Qualität, weil sie sich auch mit Defiziten einer Industriegesellschaft auseinandersetzen. Regisseure wie Rolf Losansky, Hermann Zschoche oder Egon Schlegel setzten auf die Kraft der kindlichen Fantasie, schufen über diese Brücke Räume für eine autarke Entwicklung der Kinder und wurden so gleichzeitig zu Anwälten für ein solches Kinderrecht. Die Autorin Christa Kozik, die wie die genannten Regisseure, viele Kameramänner und andere kontinuierlich für Kinder arbeitete, prägte für diese Filme ein vielzitiertes Leitmotto: Sie sprach vom dritten Auge, mit dem Kinder sehen würden. Für dieses dritte Auge stehen Filme wie „Moritz in der Litfasssäule“ (1983). Ohne dass sie sich als Persönlichkeit aufgeben müssten, sollte Kindern Mut gemacht werden, auf eine rational geprägte Welt zuzugehen und dort selbstbestimmt ihr Glück zu suchen. Regisseure wie Helmut Dziuba mit „Sabine Kleist, 7 Jahre“ (1982) und Heiner Carow mit „Ikarus“ (1975) mischten sich unmittelbar in die Realität ein und konfrontierten sie mit elementaren Sehnsüchten der Kinder. Damit machten sie sich bei damaligen Ideologiewächtern keine Freunde, doch sie formulierten, wie sich im Rückblick bestätigt, humanistische Ansprüche, die weit über die real fixierte Zeit in ihren Filmen hinausreichen. Es ist insgesamt sicher ein kleinerer Teil der DEFA-Kinderfilme, der auch heute noch vor dem Publikum Bestand hat. Doch dieser Teil ist eine Art „Goldene Gans“, bei der es sich lohnt, wenn man sie findet.

Klaus-Dieter Felsmann (filmdienst 22/2004)

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