Filmstill zu "Lotte in Weimar"

Dresen und die anderen.

Die letzte „DEFA-Generation“ – Ankommen und / oder Scheitern

von Michael Hanisch

Ende 1993 veröffentlichten die Freunde der Deutschen Kinemathek in ihrer Kinemathek-Schriftenreihe den Band „DEFA NOVA – nach wie vor?“, in dem sich Dietmar Hochmuth an den „Versuch einer Spurensicherung“ machte. Hochmuth, selbst Angehöriger jener Generation, die in den 1990er-Jahren von den Hochschulen zur DEFA kam und dort den mühseligen, ihnen endlos lang erscheinenden Gang durch die Mühlen eines monopolistischen Staatsbetriebs suchte, beschrieb anhand zahlreicher Dokumente und Gespräche einen Weg, der eigentlich in keinem einzigen Fall zu dem erhofften Erfolg führte. Sie alle waren gewissermaßen „Kinder der DEFA“, hatten ihre Sozialisation in der DDR erfahren und das Privileg einer Ausbildung an der Babelsberger Filmhochschule erfahren (oder konnten ihr Studium gar – im Falle von Hochmuth – an der legendären Moskauer Hochschule, dem WGIK absolvieren). Nun wollten sie sich in den so genannten gesellschaftlichen Diskurs „einbringen“, wollten Filme drehen und ihre Geschichten erzählen – und mussten feststellen, dass sie von offizieller Seite zwar lautstark begrüßt, in Wirklichkeit aber misstrauisch überwacht, gegängelt und behindert wurden. Nach Überwindung endloser Schwierigkeiten und nach langen Jahren des Wartens gelang es ihnen dann endlich, einen ersten Film zu realisieren; sie konnten beweisen, dass ihr Talent und ihre Durchsetzungskraft womöglich doch ausreichten, um eine relevante Geschichte so zu erzählen, dass sie ein Publikum erreichen konnte, das ihnen zuhörte. In den seltensten Fällen schafften sie es, unter nicht weniger beschwerlichen Bedingungen, sogar noch einen zweiten Film auf die Beine zu stellen. Dann kam die Wende, vieles, fast alles wurde anders, ganz anders – und einiges blieb erstaunlicherweise doch gleich.

Zunächst einmal fiel der Druck weg. Diejenigen, die ihn auf die Filmemacher ausgeübt hatten, verloren ihre Posten. Aus dem monopolistischen Staatsbetrieb, dem „volkseigenen“ DEFA-Spielfilmstudio, wurde ein Wirtschaftsunternehmen, das den Gesetzen des Marktes zu gehorchen hatte. Nach der kurzen süßen Zeit einer eigenartigen „Anarchie“ war der Druck wieder da, scheinbar ein ganz anderer Druck, der sich bei näherer Betrachtung als sehr ähnlich zeigte. Wie kamen die, die allein schon durch ihre beruflichen und persönlichen Erfahrungen immun gegen nostalgische Verklärungen der Vergangenheit sein mussten, mit den Veränderungen klar, die alle anderen, ihre Landsleute, ihr Publikum, für das sie bisher gearbeitet hatten, genauso zu bewältigen hatten?

Ohne Zugeständnisse

Zum Beispiel Herwig Kipping (Jhrg. 1948, Absolvent der Babelsberger Filmhochschule HFF 1982). Sein Debütfilm „Das Land hinter dem Regenbogen“ ließ 1992 aufhorchen: der erste Film eines 54-Jährigen, vorgestellt zehn Jahre nach Beendigung des Studiums, realisiert in jener „Zwischenzeit“ der DEFA, in der das Ende des Studios längst abzusehen war. Ein teilweise autobiografischer, radikaler Film, in dem die aufgestaute Wut über ein System zu finden war, das behauptete, ein Paradies für die Menschheit aufzubauen, und dabei nicht wenige Menschen psychisch und physisch zerstörte. Das an Fantasie überbordende Pamphlet eines ehemaligen SED-Mitglieds (später aus der Partei „wegen antisozialistischer Haltung auf einer oppositionellen Plattform“ ausgeschlossen), der sich an seiner Lebensgeschichte und der Geschichte des Landes abarbeitete. Der Film wurde ohne jeden Kompromiss, ohne Zugeständnisse erzählt und gedreht und war ein Solitär in der deutschen Kinolandschaft des Jahres 1992, ein Fels, der in seiner Fremdheit aber auch nicht wenig verstörte. Kipping konnte bereits 1983 an der Hochschule einen mittellangen Spielfilm („Hommage à Hölderlin“) realisieren und interessierte sich auch danach für die Unangepassten, für die, die sich ganz zwangsläufig außerhalb jener verdächtig „vernünftigen“ Normen stellen: „Novalis – Die blaue Blume“ war eine formenreiche, opulente Collage, bestehend aus den Fetzen einer Dichterbiografie, die hierzulande kein Publikum mehr fand. Es war Kippings vorerst letzte Wortmeldung. Zum Beispiel Jörg Foth (Jhrg. 1949, Absolvent der HFF 1977). Sein Weg (und der mehrerer seiner Kollegen) zeigt: Die heute viel beklagte „Generation Praktikum“ gab es in der DDR für künftige Regisseure schon immer. Die meisten Absolventen der Regiefakultät an der HFF warteten schon damals endlos lang; verzweigt und extrem beschwerlich war für sie der Weg zum ersten eigenen Film. Im besten Fall verließen sie die Hochschule mit dem Zertifikat „Diplom-Filmregisseur“ (wenn es ihnen gelang, das Projekt eines Diplomfilms zu Ende zu bringen) – im schlechten Fall mussten sie Jahre auf das Zertifikat mit dem sperrigen Titel warten. Foth arbeitete nach der Hochschule viele Jahre als Assistent (u.a. bei Ulrich Weiß und Bernhard Wicki), erhielt 1984 einen Vertrag als Nachwuchsregisseur und ging nach dessen Ablauf als Hospitant zum Theater. Nach der Wende, im Frühjahr 1990 – 13 Jahre nach Absolvierung der Hochschule – bekam er vom DEFA-Spielfilmstudio einen Vertrag als Regisseur – um sechs Monate später wieder entlassen zu werden. Als er bei der DEFA als Regisseur anerkannt wurde, war er 41 Jahre alt. „Forever young“ überschrieb er einen Aufsatz über seine und seiner Generationskollegen Situation in der Wendezeit und den langen Weg dahin. 1983 konnte er seinen Diplomfilm „Das Eismeer ruft“ realisieren, eine „stilistisch reizvolle, spielerische Ode an den Idealismus der Kindheit“ („Lexikon des Internationalen Films“). Sieben Jahre später folgte „Biologie!“, dem Elke Schieber das Etikett „einziger Umweltfilm der DEFA“ gab. Fast gleichzeitig lieferte Foth seinen Abschied von der DDR: die kabarettistische Nummernrevue „Letztes aus der Da Da Er“. In einem Gespräch mit Dietmar Hochmuth resümierte er 1993: „Ich glaube, dass es für unsere Generation wesentlich schlechter aussieht als für jüngere Leute. Jemand, der in der DDR Schule, Ausbildung, Studium absolviert hat und für den der Zusammenbruch der DDR genau an diesem Knackpunkt passiert ist, wo das eigentliche Leben beginnt – für den ist es wesentlich leichter. Wir haben ein bisschen Pech gehabt, dass wir sozusagen mit der DDR geboren wurden und die ganze lange DDR über erlebt haben und der Zusammenbruch für unsere persönliche Biografie ein bisschen spät kam.“ Foth arbeitete in den 1990er-Jahren für verschiedene Fernsehsender, drehte Dokumentarfilme und experimentierte am Theater. 2002 fungierte er bei der ZDF-Produktion „Befreite Zone“ als Regieassistent. Einen Spielfilm fürs Kino konnte er nicht mehr realisieren.

Ungehindert drehen können

Zum Beispiel Evelyn Schmidt (Jhrg. 1949, Absolventin der HFF 1973). Sie, die nach ihrem Studium vier Jahre Meisterschülerin bei Konrad Wolf war und danach einen Vertrag als „Nachwuchsregisseurin“ erhielt, musste „nur“ sechs Jahre auf ihren ersten eigenen Film warten: „Seitensprung“, die Geschichte einer Ehekrise. Das Porträt einer allein erziehenden jungen Frau „Das Fahrrad“ (1982) – ein kritisches Gesellschaftsbild der DDR – fand im Westen (im Internationalen Forum des Jungen Films) aufgeschlossene Resonanz, stieß in der DDR auf die Ablehnung eines Großteils der Kritik und das Desinteresse des Publikums. Es mag vor allem an diesem Film gelegen haben, dass Schmidt neun Jahre warten musste, bis 1988 ihr DEFA-Vertrag als „Nachwuchsregisseurin“ in einen als „Assistenzregisseurin“ modifiziert wurde. Ihr letzter Spielfilm „Der Hut“, gewidmet „Der letzten DDR-Bürgerin“, kam 1991 in einige wenige Kinos. Es war ihr fünfter DEFA-Film. In einem Text für Hochmuths Dokumentation umriss sie 1993, was das Babelsberger Spielfilmstudio für sie bedeutete: eine „Heimat“. „DEFA-Spielfilm bedeutet für mich, am Morgen in das Studio zu kommen, wenn es noch kühl war und trotzdem ein schöner Tag zu erwarten war. Wenn man also ungehindert drehen konnte. Wenn die Beleuchter ihren Wagen beluden und die Kleindarsteller in Kostüm und Maske die letzte Zigarette vor ihrem Bus rauchten, der Aufnahmeleiter entnervt seine Liste checkte und über allem eine Erwartungshaltung lag. Wenn man sich dann ‚Guten Morgen’ sagte, war die Welt in Ordnung. Ich habe diese Stimmung geliebt, und die werde ich mir als DEFA erhalten. Außerdem gibt es noch unsere Filme.“

Evelyn Schmidt, Jörg Foth, Herwig Kipping: drei Beispiele aus einer Gruppe von Regisseuren, die in den 1980er-Jahren begannen, die Wende erlebten und danach, als sich die Strukturen im neuen Deutschland verfestigten, keine Möglichkeit fanden, sich als Filmemacher im gesellschaftlichen Dialog zu artikulieren. Hochmuth widmete sich in seinem Band noch weiteren Schicksalen: Karl Heinz Lotz, Karl-Heinz Heymann, Jan Bereska, Petra Tschörtner, Maxim Dessau, Jochen Wisotzki, Peter Welz, Andreas Höntsch, Hans-Werner Honert und Thomas Heise (Jhrg. 1955, Absolvent der HFF 1982), der sich als Einziger der Gruppe fast ausschließlich dem Dokumentarfilm zuwandte und der nach 1990 einigermaßen kontinuierlich weiter arbeiten konnte.

Fast schon eine andere Generation, gewissermaßen die „allerletzte DEFA-Generation“, repräsentieren Peter Kahane, Jens Becker, Andreas Kleinert und Andreas Dresen. Was sie (mit Ausnahme von Kahane) von den anderen unterscheidet, ist vor allem jene eigenartige „Gnade der späten Geburt“. Sie sind um die 20 Jahre jünger als ihre Vorgänger, erlebten zwar gleichfalls ihre Sozialisation nahezu ausschließlich in der DDR, wurden aber weniger in der kulturpolitisch steril-bürokratischen Situation der stagnierenden DDR aufgerieben. Lag es allein daran, dass für sie die Wende eben nicht zu spät kam und sie dadurch weit erfolgreicher im neuen Deutschland ankamen? Jörg Foths Prophezeiung aus dem Jahr 1993 erwies sich im Lauf der Zeit durchaus als richtig.

Konfrontiert mit Misstrauen

Der älteste dieser Gruppe ist Peter Kahane (Jhrg. 1949, Absolvent der HFF 1979). Er debütierte 1985 mit „Ete und Ali“ im DEFA-Spielfilmstudio. Zwei Jahre später entstand „Vorspiel“, 1990 sein „DDR-Abschiedsfilm“ „Die Architekten“. 1985, mit 36 Jahren, hatte Kahane von der DEFA einen Vertrag als „Nachwuchsregisseur“ erhalten, drei Jahre später wurde er als Regisseur beschäftigt. „Ich habe bei der DEFA einen Film mittlerer Länge und zwei Spielfilme gedreht mit sehr viel Spaß und Gewinn“, bekannte er 1988. Fünf Jahre später blickte er im Gespräch mit Hochmuth auf seine Arbeit in der DDR zurück: „Ich hatte immer das Gefühl, und das hatten meine Kollegen in meinem Alter fast alle, man lässt mich nicht rein in dieses Land. Ich wollte eigentlich nichts sehnsüchtiger als mitmachen in der DDR, ich wollte endlich ankommen und nicht immer das Gefühl haben, die lassen mich irgendwie draußen vor der Tür, ich werde an bestimmten Entscheidungen nicht beteiligt, mir wird andauernd Misstrauen entgegengebracht.“ Kahanes erster Film nach der Wende, die leise Gegenwartskomödie „Cosimas Lexikon“, reflektierte nebenbei die großen Veränderungen, die die kleinen Leute in der lange Jahre geteilten Stadt Berlin nach 1989 erfuhren. Es dauerte dann wieder mehr als sieben Jahre, bis er 1998 den Spielfilm „Bis zum Horizont und weiter“ inszenieren konnte, eine eigenartige Aussteigergeschichte mit doppeltem Boden. Seitdem (und auch dazwischen) gab es „das tägliche Brot“ deutscher Regisseure: Fernsehen. Beiträge für Serien („Polizeiruf 110“), Filme für die Prime Time – mit allen Konsequenzen. Über fehlende Aufträge kann sich Kahane gewiss nicht beklagen; Fernsehfilme wie „Meine große Liebe“ (2005), „Eine Mutter für Anna“ oder „Eine Liebe in Königsberg“ (beide 2006) passen ins stromlinienförmige Abendprogramm des Fernsehens, sind freilich für den Regisseur von „Die Architekten“ doch enttäuschend. Kahane stimmt gern das allgemeine Klagelied über die Quotensucht und die Feigheit der Sender an, die ambitioniertere Werke nur in der Nacht ausstrahlen; immerhin sind seine aktuellen Arbeiten zur Hauptsendezeit zu sehen. Kino ist für ihn weiterhin der Traum: „Das Kino ist im Vergleich zum Fernsehen wie eine große Maschine, die viel mehr Hebel hat, an denen man unbefangener drehen und spielen kann.“ Davon zehre er im Fernsehalltag. „Wer das einmal gemacht hat, will da immer wieder hin“, gestand er im April 2001.

Andreas Kleinert (Jhrg. 1962, Absolvent der HFF 1989) fand den kürzesten Weg zur eigenen Regie. Er erlebte das Babelsberger Spielfilmstudio zunächst „von unten“, aus der Perspektive der Arbeiter, war dort nach dem Abitur als Transportarbeiter tätig und arbeitete in der Requisite. Später war er Volontär und Regieassistent. Die „Gnade der späten Geburt“ verhinderte, dass er die bitteren Erfahrungen bei der Produktion des ersten Films bei der DEFA machen musste. „Ich bin 1980 ins Studio gekommen, habe die DEFA von unten erlebt, und als es dann wirklich zur Sache bei mir ging, war das alles schon in völliger Auflösung. Also ich bin diesen harten Strukturen überhaupt nicht begegnet.“ Kleinert drehte seinen Diplomfilm noch in der Hochschule; sein erster Kinofilm „Verlorene Landschaft“ ist eine hintergründige Wendegeschichte, die 1992 bereits schon außerhalb der DEFA entstand. Damit begann eine erstaunlich erfolgreiche Karriere, die – ähnlich wie bei Kahane – vom Fernsehen bestimmt wird, aber immer wieder durch Versuche beeindruckt, im Kino ein aufgeschlossenes Publikum zu finden.

Längst lehnt es Kleinert ab, als „ostdeutscher Filmemacher“ apostrophiert zu werden, was zu sehr nach „Solidaritätszuschlag“ klingen würde, nach Vorurteil, Unkenntnis, Ablehnung und Unverstand; wahrscheinlich fühlt er sich auch nicht mehr zur „letzten DEFA-Generation“ gehörig. Wenn ein Regisseur, der seine Ausbildung noch in der DDR erhalten hat, ohne Wenn und Aber in der widersprüchlichen deutschen Realität angekommen ist, dann ist es – neben Andreas Dresen – vor allem Kleinert, der sich in seiner theoretischen Diplomarbeit mit den „Bewusstseinsebenen in der Filmpoesie von Andrej Tarkowskij“ auseinandergesetzt hat. Besser als viele seiner Kollegen scheint er sich den Gegebenheiten der Medienindustrie anpassen und trotzdem ein Maximum an persönlichen Ambitionen bewahren zu können. Er arbeitete mit Götz George als „Schimanski“ und in dem Drama „Mein Vater“, mit Jutta Hoffmann als Potsdamer Kommissarin Wanda Rosenbaum für „Polizeiruf 110“, war für die eine Hälfte der verfilmten Klemperer-Tagebücher verantwortlich und vermittelte in eindrucksvollen Kinofilmen wie „Neben der Zeit“ (1996) und „Wege in der Nacht“ (1999) seine düstere Weltsicht. Zuletzt zeigte sein Fernsehfilm „Kleine Frau“, dass hier viel von der guten Tradition der alten „Polizeiruf“-Serie erhalten werden konnte, mit Mitteln des Serienkrimis gesellschaftliche Realität zu spiegeln. Am 10. Mai strahlt die ARD seinen neuen Film aus, das Gegenwartsdrama „Als der Fremde kam“, erneut mit Götz George.

Jens Becker (Jhrg. 1963) hat es da weit schwerer, in der aktuellen Medienlandschaft zu bestehen. Auch er erlebte das Ende der DDR an der Babelsberger Hochschule, wo sein Diplomfilm entstand; sein viel versprechendes und hoch gelobtes Debüt „Adamski“, die skurrile Liebesgeschichte zwischen einem Kaufhausdetektiv und einer jungen Diebin, angesiedelt um den Berliner Alexanderplatz kurz nach der Wende, wurde 1993 bereits außerhalb der DEFA realisiert. Das Finden dieses Stoffs scheint auch etwas über die Biografie des Regisseurs zu vermitteln: „Die Geschichte kam eher durch einen Zufall zustande. Bis zum Ende meines Studiums hatte ich immer Geschichten erzählt, die mit der DDR zu tun hatten. Danach war es schwierig, überhaupt etwas zu finden, das zu erzählen sich lohnte. Entweder die Geschichten waren schon zu weit weg, oder sie waren zu nah dran. Ich stand damals wie mein ganzer Studien-Jahrgang vor dem Nichts und hatte auch nichts vorzuweisen außer ein paar Hochschul-Etüden, die durch die Blume erzählten – wir hatten ja in der DDR eine große Kunst entwickelt, Dinge nicht direkt zu benennen, um die Zensur zu umgehen. Aber das hat im Westen keiner verstanden.“ 1996 inszenierte Becker den Fernsehfilm „Katrin und Wladimir“, die tieftraurige, dennoch Lebensmut machende Liebesgeschichte zweier vom Tod gezeichneter junger Menschen. In der Folgezeit orientierte er sich in erster Linie hin zum Dokumentarfilm – auch dies ein Charakteristikum vieler Absolventen der Babelsberger Hochschule: ihre enge Bindung ans Dokumentarische auch dann, wenn sie sich längst als erfolgreiche Spielfilmregisseure etablieren konnten. „Wie aus heiterem Himmel“ (1998) erinnert an Ereignisse im Sommer 1961, als der Mauerbau in einer mecklenburgischen Oberschule zu brutalen Brüchen in den Biografien einiger Schüler führte; „Henker – Der Tod hat ein Gesicht“ (2001) stellte einige der letzten europäischen Scharfrichter vor.

Zwischen Ästhetik und Ideologie

Der bis heute erfolgreichste Regisseur dieser Gruppe ist Andreas Dresen (Jhrg. 1963, Absolvent der HFF 1992). Eine außerordentlich beeindruckende Produktivität ist hier zu entdecken, eine Zielstrebigkeit, die in der gegenwärtigen deutschen Medienlandschaft fast wie die einsame Ausnahme von der traurigen Regel wirkt. Auch Dresen arbeitete nie als Regisseur bei der DEFA, drehte seine Hochschulfilme an der HFF und sein Debüt „Stilles Land“ (1992) außerhalb des Studios. Die Prägung durchs Kino der DDR ist von ihm indes nie in Zweifel gezogen worden – nicht zuletzt durch Günter Reisch, einen der bekanntesten Babelsberger Regisseure, dessen Meisterschüler Dresen nach der Wende war. Interessant in diesem Zusammenhang das Gespräch zwischen ihm und Hochmuth über die „DEFA-Ästhetik“, die Hochmuth in „Stilles Land“ zu finden glaubt. Dresen wehrt sich gegen diesen leisen Vorwurf: „Die DEFA wurde immer zum Feindbild erklärt, auch bei jungen Leuten, und ich muss sagen, für mich war die Ästhetik weniger das Problem als die Ideologie, die manchmal dahinter steckte. Die Ästhetik habe ich insofern bei manchen Filmen angenommen, wenn sie irgendwie soziale Momente hatte oder an den Leuten dran war.“ Die beiden konnten sich offenbar nicht einigen über das, was diese „DEFA-Ästhetik“ sein soll. Dresen, ein außerordentlich erfolgreicher Filmemacher – ein Mann des Widerspruchs, der vor allem aus diesem Widerspruch die Funken schlägt. Kerstin Decker hat diesen Widerspruch 2001 – da war Dresen bereits anerkannt und geschätzt – sehr schön formuliert: „Ein DEFA-Regisseur ohne DEFA-Film in einer Anti-DEFA-Wirklichkeit.“ Was ist ein „Andreas-Dresen-Film“? Kerstin Decker: „Ein Andreas-Dresen-Film entsteht, wenn das DEFA-Handwerk und die Wahrheits-Schwere auf den Imperativ des Leichter-Werdens treffen.“

Dresen bekennt stolz, wie wichtig für ihn einige Filme „der anderen“ sind: die Filme der Russen Wassili Schukschin und Alexander Mitta beispielsweise, von Andrej Wajda oder seinem Lehrer Günter Reisch. Und er gesteht, dass er 1989 nach der Maueröffnung im Westen sofort ins Kino gerannt sei, um Peter Greenaways „Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber“ zu sehen: „Ich fand ihn grauenhaft, total künstlich. Da hat es mir fast leid getan um das schöne Westgeld. Der zweite Film war ‚Mystery Train’ von Jarmusch – das hat mich dann wieder versöhnt.“ Dresen kann auch schon mal mit der Forderung nach einem neuen deutschen „sozialkritischen Film“ verstören. Und er ist ein Mann der Provinz. Immer wieder betont er, dass er nicht in Ost-Berlin, auch nicht in Babelsberg aufgewachsen sei, sondern in Schwerin, einer „relativen Kleinstadt“, heute Landeshauptstadt von Mecklenburg-Vorpommern. Später drehte er einen der schönsten Berlin-Filme: „Sommer vorm Balkon“ (2005). Denkt man in diesem Zusammenhang an Detlev Buck, der komplett andere Filme dreht, mit seinem Großstadtfilm „Knallhart“ aber einen ähnlichen Weg nach Berlin zurückgelegt hat, dann könnte man fast von einer Frischzellenkur sprechen, die das deutsche Kino derzeit aus der norddeutschen Provinz erfährt.

Andreas Dresen antwortet auf die immer wieder gestellte Frage, ob er sich eine Arbeit in Hollywood vorstellen könne, souverän: „Ach, schon.“ Um sich dann auf Billy Wilder zu berufen, der als seine oberste Maxime den Satz nannte: „Du sollst nicht langweilen!“ Im Moment hat Dresen wenig Zeit, an Hollywood zu denken. Er dreht Filme, inszeniert am Theater, auch von Opernregie war zu hören. Die Frage nach dem Angekommen-Sein hat er sich wohl nie gestellt. Er ist angekommen und erinnert sich dabei immer wieder daran, wo er hergekommen ist. Ganz unverkrampft, ganz souverän.

Michael Hanisch (filmdienst Sonderheft 10/2006)

  • Dietmar Hochmuth (Konzeption + Redaktion): DEFA NOVA – nach wie vor? Versuch einer Spurensicherung. Hrsg.: Freunde der Deutschen Kinemathek, Band 82 (30. Jahrgang) der Reihe „Kinemathek“, Berlin, Dezember 1993, 359 Seiten.
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